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Interview: Blind Guardian

mit Hansi Kürsch vom 12. Dezember 2012
Schon als wir uns im Jahr 2011 mit Gitarrist André Olbrich zum Interview im Nuclear-Blast-Pressezelt auf dem Wacken Open Air trafen, geisterte die Idee einer orchestralen Monumental-Scheibe durch unser Gespräch, die alle bisher da gewesenen Produktionen der Truppe in den Schatten stellen sollte. Und nun anderthalb Jahre später wächst dieses damals eher fast noch nebenbei erwähnte Projekt zu einem handfesten Silberling heran. Doch was unterscheidet dieses Projekt von denen, die bereits die Scorpions oder Metallica und Rage mit dem berühmten Lingua Moartis Orchester auf die Beine stellten? Auch stellt sich natürlich die Frage, wie den Fans ein solches Projekt dargeboten werden soll, da es allein schon wegen der Anzahl der involvierten Musiker unmöglich on Tour gebracht werden kann. Dann müssten die Jungs mit einer zwanzig Busse umfassenden Karawane durch die Landen ziehen, wie die Nomaden es unter der schönen Wüstensonne tun. Bedeutet das, dass es also "nur" bei einer CD bleiben muss, oder kriegt das Auge auch noch etwas von diesem Orchester-Projekt geboten?
Und wenn der "blinde Wächter" schon zuschlägt, dann auch mit geballter Power, denn bevor das Monumentalprojekt fertig gestellt wird, soll noch ein reguläres Studioalbum erscheinen. Doch vor Mitte oder Ende 2014 wird es den Weg in die heimischen Ladenregale der CD-Verkäufer da draußen wohl eher nicht finden. Was soll man also als Die-Hard-Fan solange tun? Sich verzweifelt abwenden und eine neue Band suchen? Keine Panik! Bevor man an Veröffentlichungsentzug stirbt, bekommt man aktuell die Gelegenheit die im Februar dieses Jahres erscheinende Kompilation-Box schon mal zur Überbrückung der Wartezeit bis zum nächsten Studioalbum zu erwerben. Darin wird das musikalische Schaffen der Band von den Anfangsjahren, bis 2004 abdeckt, als Blind Guardian von EMI zu Nuclear Blast wechselten. Dieser unter dem Titel "A Traveler´s Guide to Space and Time" erscheinende 15 CD's umfassende Spaß soll dann gute 120 Euro kosten.
Nun wird der eine oder andere Fan vor der Mattscheibe wieder aufschreien: "What bringen denn die geldgierigen Sympathisanten des Kommerzes wieder was recyceltes raus, ey?!" Nun ja, Blind Guardian ist gewiss keine der Bands, die ihre Fans mit recyceltem Material versorgt, nur um den letzten Penny aus den Hörern zu quetschen. Dafür machen sie bei solchen Compilation-Geschichten viel zu selten mit. Ein viel besseres Beispiel dafür, wie manche Label im Fan nur blanke Dollarzeichen sehen, ist eher die anstehende Veröffentlichung einer Motörhead-Box, die umgerechnet ungefähr 320 Euro kosten soll. Angeblich ohne Autorisierung der Band. Da blutet doch das Metal-Portemonnaie! Aber wie viel Einfluss hat man als Band auf solche Geschichten überhaupt? Wer entscheidet, ob eine solche Kompilation erscheinen darf und für wen sind solche Produkte gedacht? Die Leute, die jetzt den Bard's Song nicht mögen, werden ihn mit dieser Veröffentlichung auch nicht lieben lernen, oder?
Diese und viele weitere Fragen beantwortet uns Sänger Hansi Kürsch im ausführlichen Interview, welches schicksalhafterweise um genau 12.12 Uhr am 12.12.2012 geführt wurde.
Viel Spaß beim Lesen!

Das Interview:

Alex: Ja hallo Hansi, hier ist Alex von „Metal Trails“!
Hansi: Hey Alex! Alles klar?
Alex: Ja, und bei dir?
Hansi: Ja, kann nicht klagen. Es ist kalt draußen, aber mein Gott, wenn wir drin sind ist alles halb so wild.
Alex: Ist es bei euch auch so glatt und zugeschneit?
Hansi: Es geht. Wir hatten das so vor einer Woche, für unsere Region relativ ungewöhnlich. Und jetzt ein bisschen Schnee. Doch nun ist es eher schon wieder typisch kalt, aber ohne Schnee.
Alex: Lieber zuhause bleiben und Songs schreiben, was?
Hansi: Ja, ich bin sowieso gerne zuhause. Zum Songs schreiben fahre ich dann immer zwanzig Kilometer Richtung Studio. Das ist schon ziemlich geil zu dieser Jahreszeit, wenn du weißt, dass du nicht durch die Gegend düsen musst. Und dann schläfst du in deinem schönen warmen Bett. Hat schon was für sich!
Alex: Schlägt sich das Wetter denn in deinem Songwriting nieder, dass du an kalten, dunklen Tagen vielleicht etwas Dunkles schreibst?
Hansi: Ne, eher im Gegenteil. Bei mir ist eigentlich die Tendenz so leicht zu erkennen, wenn das Wetter schlecht ist, oder beziehungsweise wenn ich in schlechter Laune bin, dass ich sogar leicht zu eher positiven Tendenzen neige im Songwriting und umgekehrt. Aber das ist jetzt nicht so extrem, dass man da von großen Stimmungsschwankungen sprechen könnte, denen unterliege ich glücklicherweise nun nicht.
Alex: Wie läuft denn die aktuelle Produktion der neuen Scheibe?
Hansi: Du meinst jetzt die regulären Geschichten?! Also unser Studioalbum?
Alex: Genau!
Hansi: Sehr gut! Wir haben, glaube ich, mit dem Songwriting angefangen und wir sind jetzt mittlerweile schon recht tief drinnen schon, nehmen noch ein paar Orchesteraufnahmen für das Projekt auf, haben die auch schon weiter aufgenommen. Auch schon angefangen Schlagzeug aufzunehmen, aber wir werden noch mindestens 12 Monate, wenn nicht sogar 18 Monate aktiv Basis betreiben: Songwriting, Produktion und dann irgendwann auch Fertigstellung, sodass man von einem Release glaube ich nicht vor Mitte oder Ende 2014 ausgehen sollte. Wie wir es schon oft geplant haben war auch dieses Mal die Idee dann nach dem regulären Album, was zuerst kommen würde, die Orchesterscheibe dann endlich zu veröffentlichen. Und ich glaube, da sind wir wirklich nah dran. Wir haben sechs Monate schon aufgenommen und im Januar sind wir dann nochmal in Prag. Wir kommen näher und näher, um das so zu sagen.
Alex: Als wir mit André auf den Wacken 2011 gesprochen hatten, hat er erzählt, dass man so eine Orchesterscheibe nicht irgendwo auf einer Tour oder so präsentieren kann. Das geht nur bei ausgewählten Gigs mit einem ganzen Orchester. Was kann man denn da von euch erwarten?
Hansi: Selbst da wird’s schwierig und wir müssen uns da erst ein Konzept überlegen. Man muss sich dieses Orchesterprojekt so vorstellen: Da wird dem Hörer mehr von der intensiven Blind Guardian-Musik geliefert. Ich sage jetzt mal am ehesten vergleichbar mit „Wheel of Time“, oder mit dem, was wir auf der Nightfall gemacht haben, aber eben ohne Band. Ich singe und es gibt da natürlich auch diesen Chor, das war so dieses Grundkonzept. Dieses Grundkonzept wird aber noch irgendwann dadurch erweitert, so die Idee, dass man dieses Textkonzept auch von mehreren Sängern interpretieren lässt. Dann wird’s spannend irgendwann, ob man das mal in größerem Stil häufiger auf die Bühne bringen könnte, wenn ich jetzt alleine die Sache leisten müsste. An einem Abend oder an zwei Abenden würde ich es mir zutrauen, da würde ich nicht in die Knie gehen, weil die Sachen mega anspruchvoll sind. Mit anderen Worten: Wir brauchen sowas wie ein „Blind Guardian Festival“, an dem oder bei dem wir das dann vorführen können. Ansonsten würde ich da erst mal drauf wetten, dass wir was weniger langes spielen werden. Deswegen ist es uns auch wichtig jetzt erst mal ein reguläres Album zu machen, um da einfach schon die Möglichkeit zu haben wieder zu touren. Aber man wird dann sehen, wie sich dieses Orchesterprojekt entwickelt. Es ist das ambitionierteste, was wir je gemacht haben. Ich würde mich nicht wundern, wenn es zum Schluss auch nicht gleich kommerziell erfolgreich, aber die zumindest intensivste und beliebteste Album von uns wird, d.h. es wird eine Sammlung von Klassikern. Einmal live wird es diese Sache auf jeden Fall geben, danach muss man gucken, wie man verfährt. Es gibt auch noch als dritte Option und dann die Möglichkeit zu sagen: „Okay, wir arbeiten diese Stücke noch einmal um und involvieren die Band und präsentieren dann in einer normalen Performance die Geschichte“. Dann wär es auch wieder eine Möglichkeit, live zu spielen. Mit einem Orchester durch die Gegend zu reisen ist ziemlich undankbar und teuer.
Alex: Schreibt ihr denn die ganzen Partituren für das Orchester selbst oder übernimmt das jemand für euch?
Hansi: Die Partituren werden in erster Linie von André auf dem Computer komponiert. D.h. die Ideen, mit denen wir arbeiten geben mehr als einen sehr guten Eindruck davon, wie das Orchester klingen wird. Ich singe die ganze Sache dann und lass mir die Melodien einfallen und versuche mich dann irgendwie durchzuangeln, setze dann teilweise noch Chöre drauf, die auch praktisch nur aufgenommen existieren - erst mal. Und dann gibt es jemanden, mit dem wir bei der „Edge of Time“ zusammengearbeitet haben, der Mathias Römer, der dann diese Keyboard-Arrangements nimmt und die Vorform schon mal basig umsetzt. Und dann geht’s nach Prag ans Orchester, wo dann der Mensch, der für die Scores zuständig ist nochmal alles überarbeitet und die Sachen in der Verteilung etwas umgewichtet. So müsste man sich das vorstellen und so funktioniert’s.
Alex: Du hattest ja auch - ich glaube im Sommer - angekündigt, dass nach dieser Live-Pause, die ihr jetzt durchzieht, ihr Songs spielen werdet, die ihr noch nie live performt habt. Wie seid ihr drauf gekommen, das zu machen?
Hansi: Ja, man will das ja eigentlich immer. Nur es gibt so zwei, drei Sachen, die zeitlich sehr aufwendig sind. D.h. die haben wir nicht gespielt, weil uns einfach die Zeit des Probens gefehlt hat, um die zu intensivieren, weil wir brauchen alleine vier bis fünf Tage, sechs Tage, bis die in der Basis sitzen. Und dann muss die Erfahrung zeigen, wie weit die überhaupt live über einen längeren Zeitraum performbar sind. Und jetzt haben wir die Zeit neben dem Songwriting und dem Produzieren, solche Sachen einmal auszuprobieren, die eventuell auch noch ein bisschen umzuarangieren, sodass die spielbar sind. Daran scheitert viel, weil dann noch die Bässe fehlen, zum Beispiel. Und es kann nie schaden, noch ein paar mehr Nummern zu haben. Es gibt immer Leute, die uns mehr als einmal sehen. Auch wenn sie, die 40 Songs, die wir in der Regel drauf haben, alle hören, die hätten gerne die anderen, keine Ahnung, 40 Songs gehört. Alle werden wir mit Sicherheit nicht spielen, aber es gibt so, ich sag mal, so zwischen fünf und zehn Klassikern, die wir tatsächlich noch nicht gespielt haben und die es durchaus zu spielen wert wären, aber die die entsprechende Problematik mit sich bringen.
Alex: Würdest du sagen, es ist ein Vorteil, dass Blind Guardian im Vergleich zu anderen Bands wirklich stabiles Line-Up über die Jahre hatte für diese Songgeschichte mit den noch nie performten Sachen?
Hansi: Ja, absolut! Also nicht nur dafür, in jeder Beziehung. Frederik ist ja auch bei uns mittlerweile fünf bis sieben Jahre. So lange existieren so manche Bands überhaupt nicht. Und da ist auch kein Ende in Sicht, also weder für die Band komplett, noch dass da irgendwer seine Fühler nach etwas anderem austrecken wird…“Ich mag nicht mehr!“ Das hilft, also der Stabilität. Die lässt dich auch mal eben anderthalb Jahre Pause machen, weil du einfach weißt, dass diese Jungs da sind, sobald das wieder losgeht. Ja, das hilft, in jeder Beziehung. Klar, wenn du uns drei siehst, Marcus, André und mich ... wir sind praktisch mit den Songs alt geworden. Dementsprechend ist auch die Beziehung relativ schnell wieder hergestellt, selbst wenn meinetwegen so eine Nummer wie „Run for the Night“, die man vor zehn Jahren gespielt hat, die würde dann rein theoretisch schnell wieder sitzen. Und das ist dann natürlich auch ein Ausdruck der Verbundenheit der einzelnen Mitglieder von Blind Guardian.
Alex: Ihr habt ja damals als Jugendliche dieses Genre des Power - und Speed-Metals begründet und geprägt. Wie hat sich denn der unausweichliche Alterungsprozess auf euren heutigen Sound im Vergleich zu früher ausgewirkt?
Hansi: Wir hatten uns eigentlich nie so wirklich als Power-Metal-Band gesehen, weil wir einen Unterschied zwischen Power - und Speed-Metal gemacht haben. Wir fühlten uns immer mehr zu dem Speed-Metal hingezogen als dem klassischen Power-Metal. Klassischer Power-Metal wäre sichtlich Viscious Rumors gewesen, von mir aus auch noch Savatage, die auch den orchestralen Approach hatten, der dann auch bei uns ersichtlich wurde. Von daher sind wir von der Speed-Metal Geschichte eben in den Power-Metal - und den Trash-Metal-Bereich abgewandert erstmal, oder beziehungsweise haben unser Spielfeld dementsprechend erweitert, und dann nachher die orchestralen und folkloristischen Elemente aufgenommen, sodass es ein ständiger Prozess war, der uns eigentlich immer zu einer Metal-Band gemacht hat oder bleiben lassen hat. Aber für uns bedeutet es, dass wir keine klassische Power-Metal-Band gewesen sind und auch nie sein wollten, sondern von Anfang an eigentlich diesen Drang gespürt haben, noch mehr in diese Musik reinzupacken. Uns ist auch wichtig, uns nicht zu wiederholen. Ich finde das ist bei vielen traditionellen Power-Metal-Bands leider Gottes nicht der Fall. Die arbeiten irgendwann nach Schablone. Machen natürlich Bands aus anderen Genres auch, keine Frage. Aber das war nie unser Ding, deswegen haben wir uns eigentlich, wenn man’s ganz genau nimmt, immer nur dem Heavy-Metal verschrieben gefühlt und haben das auch sehr weit ausgelebt von Anfang an.
Alex: Und trotzdem werdet ihr immer in einen Zug mit Bands wie Helloween und Gamma Ray genannt!
Hansi: Ja, auch diese beiden Bands nenne ich eher Speed-Metal-Bands als Power-Metal-Bands und ist für mich auch vollkommen legitim. Da merkt man eben diese deutsche Handschrift der Mid- und Spät-80er, die ja speziell erstmals von „Helloween“ geprägt worden sind, und da war ein riesen Unterschied zwischen meinetwegen Accept, die eine klassische Heavy-Metal-Band sind mit leichten Einflüssen aus dem Power-Metal. Und Helloween, die waren für mich eher eine Speed-Metal-Band mit leichten Power-Metal Einflüssen. Das ist ja auch so eine Definitionsfrage. Wo steht man? Wo sieht man diese Kategorien an sich? Fakt ist, Helloween, Blind Guardian, Gamma Ray und Accept sind alle im Heavy-Metal Genre tätig, haben alle, also speziell die Bands, die du gerdae genannt hast, diesen teutonischen Mit-80er Approach. Und von daher, na klar, ist der Vergleich durchaus gegeben. Auch bei Gamma Ray und bei Helloween kann man Queen-Einflüsse raushören. Die spiel ‘n das eben halt nur anders und bei Gamma Ray waren da zeitweise Pink Floyd vielleicht ein bisschen wichtiger, wärend bei uns Frontal wichtiger gewesen ist. Und bei Helloween, keine Ahnung, Van Halen oder so. Aber im Prinzip sind alle Bands in gewisser Weise schon in der Art verwandt.
Alex: Also als wir vor kurzem schon mit Kai gesprochen hatten - die sind jetzt gerade beschäftigt, eine neue Scheibe zu produzieren - da haben wir noch gefragt, woher man als so eine Band überhaupt noch irgendwelche neuen Ideen für seine Alben bekommen kann. Es wurde ja, wie manche sagen, schon alles gespielt. Wie kann man denn jetzt als Blind Guardian irgendwas Neues den Fans bringen, was die vielleicht noch nie gehört haben?
Hansi: Spätestens beim Orchesterprojekt sollte sich deine Antwort einstellen. [lacht]
Alex: Aber gut, wir hatten sowas schon bei Metallica, Scorpions und Rage. Orchester alleine reicht heutzutage doch nicht!
Hansi: Naaa, ich glaube, du wirst den Unterschied schon hören. Bei uns wird tatsächlich Musik ganz anders zelebriert und quasi, jetzt wie es speziell bei Metallica der Fall gewesen ist, weil da ist es ja nur eine Aneinanderklatschung von guten Heavy-Metal-Songs, die dann im Orchester dargeboten werden. Und das hat man bei den meisten anderen Bands auch, das ist bei uns ja nicht der Fall. Bei uns sind das ja wirklich Songs, die es in der Art noch nicht gegeben hat. Man kriegt so einen kleinen Eindruck, wenn man „And Then There Was Silence“ oder „Wheel of Time“ hört, die ursprünglich fürs Orchesterprojekt mal geplant worden sind und die wir dann aus dem Kontext gerissen haben und bei denen wir dann versucht haben, bombastische Blind Guardian Nummern zu formen. Das ist bei dem Orchesterprojekt anders, da merkt man auch die Handschrift. Das sind eindeutig Sachen, die in der Form noch nie komponiert worden sind und auch nie da gewesen sind. Aber klar, du merkst natürlich da singt ein Hansi und da sind schon die Verspieltheiten drin, die uns ausmachen. Ich glaube, was viele Leute unterschätzen, ist die Möglichkeit, wie sich jedes Individuum in die Musik einbringen kann. Und von daher ist die Möglichkeit, Sachen leicht zu justieren, nicht nur manigfaltig. Ich würde sogar sagen, es ist ein unendliches Spielfeld. Das ist so ähnlich wie das Gehirn der Menschen, halt eben noch gar nicht ausgereift. Aber ja, ich mein, wir werden die Harmonielehre auch nicht mehr verändern, und es gibt gewisse Gesetze, an die man sich halten sollte. Man kann die vielleicht ein bisschen weiter biegen und dehnen, was viele anderen machen. Aber trotzdem kommst du um bestimmte Gesetzmäßigkeiten der Physik einfach nicht ru, und das macht erst mal den Eindruck, als ob es da eine Imitierung geben würde. Wenn jetzt z.B. vier Typen aufeinandertreffen, wie Frederik, Markus, Andre und ich, dann ist das was anderes als wenn Andre durch Kai ersetzt werden würde. Dadurch entsteht schon etwas Neues. Und die gehen halt anderes heran als Michael Kiske und ich als Beispiel. Von daher habe ich mir, ehrlich gesagt, noch nie Gedanken gemacht. Ich glaube auch, dass unsere Diskographie da durchaus beweist, dass man was anders machen kann, ohne sich komplett zu verbiegen und ohne, meinetwegen die Welt zu revolutionären.
Alex: Also ich studiere ja historische Musikwissenschaft, und da haben wir gelernt, dass Harmonien und Regeln in der Musik immer abhängig sind von der Zeit, in der man lebt. Und wenn wir heute z.B. irgendwelche Gregorianischen Gesänge oder so hören, das sind ja Menschen, deren Musik bis heute überlebt hat, die man heute immer noch hören kann. Glaubst du, dass der Sound von Blind Guardian, der nach heutigen Gesetzmäßigkeiten der Musik entstanden ist, auch noch in 100 oder 200 Jahren den Menschen etwas sagen wird?
Hansi: Das hängt ein bisschen von der Übermittlung ab. Wenn es da mehr um Notation und mehr um Eigeninterpretation geht, dann ist die Möglichkeit gegeben. Ich glaube, dass diese Tonträger, die praktisch unsere Musik übermitteln, da wird’s natürlich schwierig, das dann 100 oder 1000 Jahre noch irgendwie aufrecht zu erhalten und davon auszugehen, dass man da noch sitzt und sagt: „Wow! Das war’s!“ Das passiert wahrscheinlich noch nicht mal bei den Beatles. Aber was passieren wird, ist eben, dass ein Song wie Hey Jude z.B. durch Notation und durch Interpretation überleben wird. Das traue ich ‘nem Song, also das kann "Bard's Song" sein, oder sogar "Mirror Mirror", was auch immer, durchaus zu… Aber vieles geht natürlich verloren, gerade wenn du von Gregorianischen Geschichten redest. Die sind ja noch halbwegs archiviert worden durch die Kirche. Wenn man jetzt von den Minnegesangsgeschichten ausgeht, kann man ja nur erahnen, wie viel da auf der Strecke geblieben ist, weil dann irgendwann nichts mehr übermittelt worden ist.
Alex: Da gibt es ja teilweise 30 Melodien, und anhand dieser wird dann ein ganzes Genre beschrieben und definiert. Das ist dann ja schon eine ziemliche Frickelarbeit, wie das ßdie Wissenschaftler zusammensetzen.
Hansi: Das ist eine Frickelarbeit! Aber auf der anderen Seite macht es da natürlich auch wieder – wie du gesagt hast – einen gewissen Sinn, weil die Sachen tatsächlich einem bestimmten Zeitgeist entsprechen und man sich typischen Instrumentarien bedient hat. Und die werden nicht so groß anders gewesen sein, denke ich mal. Da gibt es ja auch wieder mündliche Übermittlungen. Man bekommt schon eine Idee, wie es gewesen sein könnte. Aber einige Sachen sind mit Sicherheit verloren gegangen und können auch nicht mehr zurückgeholt werden.
Alex: Siehst du denn die musikalische Entwicklung an sich als etwas lineares, so etwas wie ein Zeitstrahl, oder geht’s doch irgendwo wieder zurück?
Hansi: Das ist ja ebenso eine Frage, wie man diesen Zeitstrahl definiert? Wenn ich mir anschaue, wie in der modernen Musik dann doch immer wieder zurückgegriffen wird auf die 50er, 60er, 70er und heute teilweise und logischerweise auch auf die 80er, da ist dann schon so eine Bewegung erkennbar. Und sie ist ja eigentlich in allen Bereichen immer erkennbar gewesen. Es ist immer irgendwie ein Schritt zurück und dann wieder zwei Schritte vorwärts, oder vielleicht auch umgekehrt. Ich denke, man kann tatsächlich davon sprechen, dass man eigentlich immer eher ein Bisschen stärker rückwärts geht als nach vorn. Aber es gibt ja natürlich immer Gegenbeispiele. Mozart etwa, oder von mir aus auch Bach, die da auf einmal wirklich auch Sachen praktisch gesetzmäßig definiert oder „herausgefunden“ haben, die den anderen scheinbar bis dahin verborgen geblieben waren. Es gibt auch immer wieder solche Individuen, wie Michael Jackson meinetwegen, die ihrer Zeit voraus sind und trotzdem den Zeitgeist leben.
Alex: Dann sprechen wir nochmal kurz über "A Traveller’s Guide To Space and Time". Das kommt ja im Februar heraus. Was kannst du uns dazu erzählen?
Hansi: Es ist eine sehr aufwendige Compilation, in die wir viel Zeit und Arbeit gesteckt haben und die sich mit der „Blind Guardian“-Story aus dem Jahre 2004 sehr intensiv auseinandersetzt. Es wird sicherlich ein paar neue Einblicke geben auf „An Extraordinary Tale“. Das ist eine CD, auf der einige Demo-Versionen zu hören sind und die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Dann gibt´s natürlich ein paar sehr interessante Remixe, die das Ganze wieder ein bisschen zeitgemäßer machen, ohne aber den alten Charme komplett rauszunehmen; oder auch nur ansatzweise. Und es gibt für denjenigen, der es mag, die Möglichkeit, neben einem optisch schönen Produkt unser komplettes Backprogramm in einer remasterten Form zu erleben. Also wie die ganzen Sachen auf einen Qualitätslevel gepackt werden, was es so bisher auch noch nicht gegeben hat. Aber die Songs werden nicht neu erfunden, da schließt sich der Kreis wieder. Der Song bleibt der Song und derjenige, der den Bard Song bis jetzt nicht schön gefunden hat, der wird ihn auch nach dieser Box nicht schön finden. Auf der anderen Seite ist es für diejenigen, die Blind Guardian lieben, mit Sicherheit ein sehr schönes Produkt, und es wird mit Sicherheit auch ein Fanprodukt. Also, so ein Sammlerstück halt, weil es das doch nur in relativ kleiner Auflage gibt.
Alex: Hast du das mitbekommen mit der „Motörhead“-Box, die für ungefähr 320 € - nicht von der Band autorisiert – vom Label verkauft werden soll?
Hansi: Jo!
Alex: Da hat ja der Lemmy gesagt: „Look what’s going on with the music business. These are fine examples of corporate greed: Reissuing the same stuff over and over again, overcharging the customers with outrageous pricing, basically trying to rape our fanbase.” Wie siehst du persönlich diese Thematik?
Hansi: 320 €, da ist dann schon irgendwo ein Level erreicht, das schmerzhaft ist und das man nicht unbedingt mittragen muss. Aber die Entscheidung liegt bei Karl Kunde, der kann da jederzeit sagen: „Nee, mag ich nicht, will ich nicht haben, kauf ich nicht!“ Der Die-Hard-Fan ist da vielleicht etwas stärker in der Bredouille. Ich muss sagen, ich habe jetzt „Motörhead“ nicht so stark verfolgt. Es ist zum ersten Mal, dass es so eine Compilation-Box gibt, und da sind meinetwegen 30 CDs präsent. Da relativiert sich der Preis wieder. Wenn`s jetzt 10 oder 15 CDs sind, oder von mir aus auch Schallplatten, und eine Compilation in der Art schon 20 mal rausgebracht hat, dann ist es natürlich nicht gut. Das ist bei uns ja nicht der Fall. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass es in den nächsten 10 bis 20 Jahren nochmal passiert. So sehe ich es persönlich. Ja gut, wenn er seine Seele verkauft hat und jemand so ein Produkt herausgeben darf, dann hat er an irgendeinem Punkt Geld dafür kassiert. Und ich finde das ehrlich gesagt heuchlerisch.
Alex: Naja, er meint ja, dass es nicht autorisiert ist.
Hansi: Okay, ja dann ist es ja eben ein Bootleg. Dann kann ja noch nicht einmal die Plattenfirma was dafür. An irgendeinem Punkt ist es dann wieder offiziell über eine Plattenfirma gelaufen, sprich mit anderen Worten, da hat irgendwer eine Unterschrift geleistet, der vielleicht nicht unterschreiben durfte. Die EMI hätte sich nach 20 Jahren, in denen wir mit denen zusammengearbeitet haben, und seit acht Jahren sind wir ja bekanntermaßen nicht mehr bei der EMI, hätte ich das nicht ausgenommen. Die EMI hat gefragt, sehr brav. Die sind sehr lang neben uns hergerannt und haben gefragt, ob sie so eine Box machen dürfen. Und wir haben gesagt: „Okay, wenn so eine Box passiert, dann möchten wir volle Kontrollen haben und wir möchten auch an dem Material arbeiten dürfen!“ Sprich mit anderen Worten: Es kommt natürlich auch ein Bisschen darauf an, was du damit machst. Und ich glaube nicht an viele Bands, die so weit ihre Seele verkauft haben, ohne es zu wissen, und wo dann eine böse Plattenfirma da steht und einfach tut und sagt, oder so. Das haben vielleicht junge Bands, dieses Problem. Aber Bands in der Größenordnung von „Motörhead“, oder von mir aus auch in unserer Größenordnung, die wissen schon durchaus, welche Rechte man als Künstler hat. Wie gesagt, wenn das ein Bootleg ist, dann ist es ohnehin nicht korrekt, aber dann gibt es ja rechtliche Mittel dagegen, sich zur Wehr zu setzen. Ansonsten ist es halt eben, ja keine Ahnung. Dann hat er Pech!
Alex: Ja, das soll ja ein offizielles Ding sein.
Hansi: Wenn es offiziell ist und er es nicht gewusst hat, hat er gepennt. Dann ist es blöd gelaufen für ihn, aber irgendwer hat ein „Okay“ gegeben. Und wenn es Lemmy selbst war mit einer Unterschrift, die er in den 70ern oder 80ern geleistet hat, keine Ahnung. Aber niemand veröffentlicht ohne Okay des Künstlers. Wär ja total blöd!
Alex: Was erwartet man von einer Band, die genau das gleiche Geld für ein Meet & Greet von den Fans haben will?
Hansi: Ja, okay. Wir haben da nie für irgendwas in der Art und Weise Geld genommen. Und ich versuche auch nach wie vor alles, was irgendwie in die Richtung geht solcher Aktivitäten geht, die jetzt nicht unmittelbar mit „Blind Guardian“ zusammenhängen, unentgeltlich zu machen. Weil wir uns erstens nie den Schuh anziehen wollen, und zweitens sind wir auch sehr mit der Musik verbunden und wissen, dass so viel Geld die Fans doch nicht haben. Ich finde es blöd, zu wissen, wenn ein Künstler dafür bezahlt wird, dass er zu einem Meet & Greet kommt. Ich finde das unmöglich! Aber es ist Gang und Gebe. Ich kann mich daran erinnern: Als wir in den Staaten gespielt haben und auch in anderen Ländern – in Südamerika sind wir auch relativ häufig –, dann werden da die Tickets von den Veranstaltern häufig mit dem Meet & Greet kombiniert. Man holt sich aber in der Regel das „Okay“ der Künstlers. Die Künstler werden dann nicht extra bezahlt. Tja, manchmal aber eben schon. Ich finde die ganze Geschichte ist so … Jedenfalls, da irgendwelche VIP-Tickets aus dem Ärmel zu zaubern ist für mich kapitalistisch und irgendwo auch amerikanisch, sag ich mal. Finde ich fürn Arsch! Wenn du eine Verlosung hast und die Plattenfirmen oder der Veranstalter verlosen 20 Tickets mit Autogrammstunde, dann finde ich das in Ordnung. Aber sobald es über klassische, kommerzielle VIP-Tickets geht, ist es eine echte Katastrophe.
Alex: Da kann ich nur zustimmen! Das ist ja leider auch gerade bei den „Scorpions“ die Geschichte.
Hansi: Gut, die sind ja auch auf Abschiedstour, die alten Männer!
Alex: Schon seit zwei oder drei Jahren …
Hansi: Naja, sie haben ja auch eine Biographie und eine Geschichte, die das durchaus rechtfertigt, dass die da länger unterwegs sind. Aber wir sind keine amerikanisch geprägte Band, ganz einfach. Wir sehen ja bei Gamma Ray oder auch Helloween, dass es Europäer sind. Und wir machen eigentlich europäische Musik, das halten wir auch in unserem Geschäft.
Alex: Wir haben heute den 12.12.2012 und in wenigen Minuten ist es 12:12 Uhr.
Hansi: Geilomat, jaja! Ich bin gestern um 0:12 Uhr mit dem Auto unterwegs gewesen, von dem Studio nach Hause, und fand das schon sehr faszinierend, die vielen 12en da zu sehen. Also, ich finde Schnapszahlen geil, aber ich glaube nicht so wirklich an die Mystik von Zahlen.
Alex: Du darfst dir trotzdem etwas wünschen. [lacht]
Hansi: Ich darf mir was wünschen?! Gut, macht ihr Internetradio? Dann hätte ich mir jetzt „Don't Fear the Reaper“ gewünscht.
Alex: Ich kann ja mal schnell nach der CD suchen und anmachen. [Beide lachen]
Hansi: Ja, ansonsten… Ich freue mich auf Weihnachten. Ich bin ein großer Weihnachtsfan und habe hier gerade eine super Zeit Zuhause. Ich mache mir auch keine Gedanken wegen dem 21. Dezember, beziehungsweise hab schon Termine für den 22.
Alex: Zahnarzt! Neeiin!
Hansi: Ne, das ist glaube ich ein Samstag. Also den werde ich mir doch mit anderen Sachen verbringen. Vielleicht einen Weihnachtsmarkt besuchen.
Alex: Alles klar! Dann auf jeden Fall viel Spaß. Alles Gute für die Zukunft, und jetzt gehört dir das Schlusswort an die Fans.
Hansi: Ja, vielen Dank fürs Durchhalten, für das Supporten. Wir sind, denke ich, mit 25 Jahren auf der Uhr in der Mitte angelangt. Aber 25 Jahre solltet ihr uns noch geben. Ich kann versichern, dass die besten Jahre noch vor uns liegen! Obwohl wir uns dann auf der Bühne nicht mehr so schnell bewegen werden.
Alex: Cool! Alles klar! Danke für deine Zeit.
Hansi: Ja danke für das Interview! Hat Spaß gemacht.
Moderation: Alexander Kipke, Christian Mahncke

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